Das Karibik-Eiland ist 30 × 80 Kilometer gross – und damit gerade mal ein Drittel so gross wie Mallorca. Wie das nahe Guadeloupe gehört Martinique als Überseegebiet zu Frankreich und damit zur EU. In den Urwäldern der Montagne Pelée präsentiert es sich noch als tropisches Naturjuwel, wie es bei der Ankunft der Europäer war. Zwischen Vorhängen der Würgefeigen, Baumfarnen und bis zu vier Meter hohen Weihnachtsternen leuchten grosse Bromelien und kleine Orchideen auf Baumveteranen.
Dornen bedecken die Stämme, Ranken lassen die Füsse straucheln. Überall gluckert es, der Boden dampft. Näher zur Küste drängen sich Gummibäume in Übergrösse, purpurfarbener Ingwer, lila leuchtende Bougainvillea und rote Flammenbäume. Île aux fleurs, Blumeninsel, nennen die Einheimischen ihre Insel. Was auf Martinique wie Unkraut wächst, macht jede Blumenboutique neidisch: rosa Porzellanrosen, knallrotes Blumenrohr, orangegelbe Hummerscheren und Papageienschnabel.
Im 17. Jahrhundert begannen Siedler aus Europa, den wilden Urwald zu roden und Felder mit Zuckerrohr anzulegen. Seit vier Jahrhunderten wandert sein Saft in eine weltberühmte Spirituose. Seit 1996 schützt die weltweit einzige Appellation d’Origine Contrôlée (AOC) den Rhum Agricole der französischen Karibikinsel Martinique.
«Dépi nou sa bwè an ponch, dépi nou za trapé an boulézon, nou ka divini an nònm» – «Man muss keinen Löwen töten, um zum Mann zu werden – sondern Rum trinken», sagt der Volksmund auf Martinique. Die französische Karibikinsel der Kleinen Antillen lebt seit Jahrhunderten im Rhythmus ihres Kultgetränks. Nicht nur in der Wirtschaft, auch im Leben der Einheimischen ist Rum die Nummer eins – und Taktgeber des Tages.
Mit Rum durch den Tag
ereits frühmorgens um fünf Uhr beginnt er. Fit für die Arbeit macht ein Schluck Rum, «Décollage» oder «Mise à Feu» genannt. Zur ersten Arbeitspause um neun Uhr genehmigt man sich auf Martinique einen Punch, entweder «sec», «trocken» mit Rum pur, oder «feu», mit Rum, Limette und 13 Zuckerkörnern. Das Durchhalten bis zur Mittagspause erleichtert um elf Uhr morgens der «Ti-Lagoutte», der kleine Schluck Rum, bis der «Ti Punch» das Mittagessen einleitet und der «Ti 50 %» als halb volle Punch-Mischung das Mahl beschliesst.
Nachmittags folgen die kleinen Rum-Pausen «L’Heure du Christ» um 15.00 Uhr und «Ti Pape» um 17.00 Uhr. Wer zwischendurch Durst auf Rum hat, genehmigt sich nach Lust und Laune einen «Ti-Feu» mit «Feuer», einen trockenen «Ti-Sec», einen «CRS» (Citron-Rhum-Sirop) oder einen «Pété-pied», der jeden blitzschnell sich nach einer Siesta sehnen lässt. Dass «Ti» vom französischen Wort «Petit» für «Klein» kommen soll, erscheint angesichts der gut eingeschenkten Gläser eher ein Gerücht.
Den Abend läutet ein zweiter «Ti Punch» ein. Mit einem «Partante» endet der Tag auf Martinique. Getrunken wird Rum auf Martinique warm, ohne Eis, sondern bei Zimmertemperatur. «So entfalten sich die Aromen besser», erklärt ein Kellner. Den berühmten «Planteur» – je ein Drittel Rum, Ananassaft und Orangenoder anderen Obstsaft auf zerstossenem Eis – trinken fast nur Touristen. In den Weihnachtslikör «Shrubb» gehören Rum und Orangenschalen.
Zwölf Rumhäuser mit sieben «rauchenden» Brennereien, die auf der Insel den edlen Rhum agricole produzieren, und eine Brennerei für traditionellen Rum sorgen dafür, dass der Nachschub nie ausgeht. Wurde früher Zuckerrohr hauptsächlich für den Export von Rohrzucker angebaut, dient der Anbau heute fast ausschliesslich der Rumherstellung.
Die Rum-Herstellung
Das Prinzip der Herstellung ist bei allen Rumfabriken der Insel ähnlich. Wer keinen Guide bucht, kann zum Beispiel bei Rhum J.M mit der Smartphone-App auf eigene Faust hautnah mit allen Sinnen die Etappen der Rumherstellung kennenlernen. Die Destillerie von Jean-Marie Martin, kurz Rhum J.M, brennt bereits seit 1845 in einem windgeschützten Tal hinter Palmen und Bambus dicht neben einer Quelle ihren berühmten Rum.
Rhum J.M baut drei Sorten für seinen Rhum agricole an – «canne bleue», «canne rouge» und «canne paille». Als besonders edel gilt die canne bleue, die besonders saftig und zuckerreich ist. Die rötliche canne rouge birgt neben dem Zucker auch feine herbe Aromen, die hellgelbe canne paille liefert frische Noten von Gras. Sie herauszukitzeln und perfekt zu kombinieren ist die grosse Kunst beim Brennen. Die digitale Tour führt von der Quelle vorbei am Zuckerrohr-Mustergarten hin zu den drei Zuckerrohrmühlen, in denen der Saft aus dem Zuckerrohr gepresst wird.
Die Fasern, die beim Pressen anfallen, werden recycelt und später getrocknet als «bagasse» zum Befeuern der Destillier-Öfen genutzt. Zweite Station ist die chaufferie, der Kesselraum jeder Rumfabrik. In der chaufferie wird der Zuckerrohrsaft auf 60 ° Celsius erhitzt. Dieser Prozess ist wichtig, um den Zucker für die Hefe zugänglich zu machen, die ihn später in Alkohol umwandelt. Nach der chaufferie folgt als dritte Etappe die Fermentation. Dazu wird der erhitzte Saft mit Hefe versetzt.
Sie wandelt den Zucker im Saft in Alkohol um, wodurch die sogenannte vinasse entsteht. Dieser vergorene Saft hat einen Alkoholgehalt von etwa fünf bis sieben Volumenprozent. In grossen Behältern aus Beton, Stahl oder Holz gärt er 18 Stunden vor sich hin. Bei Rhum J.M geschieht dies in 23 grossen Kesseln, die durchnummeriert sind. Dank der natürlichen Hefe erfolgt die Fermentation ganz ohne Zusätze. Die Fermentation ist ein wichtiger Schritt in der Rumproduktion, da sie den Geschmack und das Aroma des Rums beeinflusst.
Die Dauer der Fermentation, die Temperatur und die Art der verwendeten Hefe spielen eine entscheidende Rolle für das Endergebnis. Nach der Fermentation wird die vinasse destilliert, um den Alkoholgehalt zu erhöhen. Rhum J.M nutzt dazu die Kolonnendestillation. Auf Martinique werden insgesamt drei Brennverfahren genutzt: Alambic, Privat und Kolonne.
Die Kolonnendestillation
Die Kolonnendestillation ist auf Martinique am verbreitetsten. Dabei entweicht der Alkohol oben als Dunst, der aufgefangen und abgekühlt wird. 60 bis 62 Volumenprozent ist der Roh-Rum stark – und wurde früher so hochprozentig auch genossen! Heute wird während der Reife (maturation) langsam und sukzessive Quellwasser zugefügt und der Roh-Rum mindestens sechs Monate stabilisiert.
Dadurch verliert er pro Woche rund ein bis zwei Volumenprozent Alkohol. Am 31. August jeden Jahres endet die Rumherstellung. So fordern es die Auflagen für die geschützte Herkunftsbezeichnung AOC. Mindestens 40 Volumenprozent ist er dann noch stark.
Die Privat-Destillation
Noch immer wird auf Martinique von einigen kleinen, familiengeführten Destillerien auch die Privat-Destillation praktiziert. Bei dieser wird der vergorene Zuckerrohrsaft in einem einfachen Destillierapparat erhitzt, der aus einem Topf und einem Helm besteht.
Der Dampf wird dann durch eine Kühlschlange geleitet, wo er wieder zu flüssigem Rum kondensiert. Die Privatdestillation ermöglicht die Herstellung von sehr aromatischem Rum mit einem eher niedrigen Alkoholgehalt.
Die Alambic-Destillation
Die Alambic-Destillation liegt zwischen der Kolonnendestillation und der Privatdestillation. Sie wird in mittelgrossen Destillerien eingesetzt und ermöglicht die Produktion von Rum in guter Qualität und mit einem mittleren Alkoholgehalt.
Bei der Alambic-Destillation wird der vergorene Zuckerrohrsaft in einem Alambic erhitzt, der aus einem Topf, einem Helm und einer Kühlschlange besteht. Der Dampf wird dann durch die Kühlschlange geleitet, wo er wieder zu flüssigem Rum kondensiert.
Die Reifung Die vierte grosse Etappe der Rum-Herstellung ist die Reifung im feuchten, dunklen Keller. Das Holz der Fässer, in denen der Rum reift, hat einen grossen Einfluss auf den Geschmack und das Aroma des Rums. Auf Martinique werden vor allem Eichenfässer verwendet. Diese Fässer können neu oder gebraucht sein und sie können zuvor für die Lagerung von anderen Spirituosen, wie z. B. Bourbon oder Sherry, verwendet worden sein.
Je länger der Rum reift, desto komplexer und intensiver wird sein Geschmack. Die meisten Rums aus Martinique werden mindestens drei Jahre lang gereift, aber einige Premium- Rums werden auch deutlich länger gelagert.
Rhum Agricole und Rhum Traditionnel
Zwei Rum-Arten, ganz unterschiedlich in Herstellung und Geschmack, werden auf Martinique produziert. Doch nur der Rhum agricole wird tatsächlich aus frischem Zuckerrohrsaft gebrannt. Der Rhum traditionnel, auch Rhum industriel genannt, nutzt zur Herstellung die billigere Melasse. Dieser Zuckerrohrsirup ist ein Nebenprodukt der Zuckerproduktion. Braun wird der Rum erst durch die Lagerung in Eichenfässern.
J.M nutzt beispielsweise Fässer aus den Vereinigten Staaten, die zuvor für die Produktion von Bourbon-Whisky genutzt wurden. Acht Jahre lang ruht der Rum bei J.M in den Fässern. Für Sondereditionen kommt der Rum im neunten Jahr noch in ein weiteres Fass, in dem zuvor Cognac, Calvados oder Armagnac gereift sind. Dadurch erhält der Rum zusätzliche Nuancen im Geschmack.
Habitation Clément: Rum und Kunst auf der Plantage
Viele der ehemaligen Rum-Fabriken mit eigenem Zuckerrohranbau, auf Martinique Habitations genannt, haben heute ihre Tore für Besucher geöffnet, locken mit Verkostungen und kostenlosen Führungen und hautnahen Einblicken in die Inselgeschichte. Besonders interessant macht dies die Fondation Clément. Das 160 Hektar grossen Anwesen von Bernard Hayot, welches mit dem Golfkrieg- Treffen von Georges Bush und François Mitterrand Weltgeschichte schrieb, verbindet vorbildlich die Rumproduktion mit Kunst und Kultur.
In der ehemaligen Destillerie erzählen Schwarzweissfotografien vom Alltag der Arbeiter und den Abläufen der Rumproduktion. Im Gutspark samt Palmenhain verrät ein botanischer Garten so manch grausames Detail aus dem Leben der Sklaven. Wer zu sprechen wagte oder auf andere Weise renitent war, wurde am Fromager-Baum festgebunden.
Langsam, über Stunden, bohrten sich dessen Stacheln in die Haut, immer tiefer ins Fleisch. «Blood» schreien daneben rote Lettern im Grün. Die grösste Freilicht-Kunstschau der Habitation Clément gilt als grösste der französischen Karibik. Und ist eine der wenigen Orte der Insel, die auch die Gräuel von einst nicht verschweigt.