Swissness

Der Arc Jurassien

Willkommen im Jurabogen, dem Wilden Westen der Schweiz. Ein Ort der Gegensätze, wo Absinthe, Anarchismus und Autonomie grossgeschrieben wird. BAR NEWS unterwegs zwischen Moutier und Môtiers, Chasseral und Chasseron auf der Suche nach Trauben und Pflaumen, Wurzeln und Kräutern.
Saint-Ursanne im Jura

Aus der Distanz betrachtet wirkt der Jura wie eine gewaltige, heranrollende Welle. Davor die drei Seen, mit ihren rebenbestockten Hängen, dazwischen der Gemüsegarten der Schweiz. Begibt man sich erst einmal durch eines der schmalen Täler hinter dem ersten Gebirgszug, wähnt man sich in einer anderen Welt. Die Juraregion ist nicht mit den Alpen vergleichbar. Das hat auch etwas mit dem kalkhaltigen Gestein und den eindrücklichen Felsformationen wie dem Creux du Van zu tun.

Der Ausdruck dieses Terroirs ist jedoch auch in fast allen flüssigen Spezialitäten dieser Region zu finden. Die Akzente, welche Winzerinnen, Brauer und Brennerinnen aus dieser Region in den letzten Jahrzehnten, nein, Jahrhunderten, gesetzt haben, sind richtungsweisend. Von hier kommt der grösste Beitrag der Schweiz für die internationale Cocktail-Kultur.

Hier kommt in Tälern wie dem Val-de-Travers auch mal eine Brennerei auf 300 Einwohnerinnen und Einwohner. (Wie viele Brennereien hat die Stadt Zürich? Sicher weniger als 1 400…) Und hier hat in den letzten Jahren eine neue Generation von Produzenten für Aufsehen gesorgt. Was machen sie anders und wo orientieren sie sich an der Tradition?

Die eindrückliche Felsformation des Creux du Van.

Ein Wein steht Kopf

Die Südflanke des Jurabogens ist geprägt von Weindörfern, wobei eines, direkt neben Yverdon-les-Bains, den illustren Namen «Champagne» trägt. Die Waadtländer Gemeinde hat eine Rebfläche von knapp 30 Hektaren, doch auf ihren Weinen dürfen die Winzerinnen und Winzer die Ortschaft nicht erwähnen. Vor einem Jahr gaben sie das juristische Tauziehen, das sich über ein Vierteljahrhundert erstreckte, gegen die Schaumweinproduzenten aus Frankreich auf.

Dem gegenüber stehen die Weine Neuchâtels, für die es eine AOC gibt. Nur zwölf Rebsorten sind zugelassen. Am verbreitetsten sind Pinot Noir und Chasselas. Für den wird ein Chasselas AOC unfiltriert abgefüllt und darf frühestens am dritten Mittwoch im Januar nach der Ernte verkauft werden. Mittlerweile sind rund 15 Prozent der Chasselas-Produktion Neuchâtels für diesen charaktervollen Weisswein bestimmt. Da man die Flasche vor dem Öffnen kurz drehen sollte, kleben mehrere Produzenten die Etiketten ihres Non-filtrés verkehrt auf die Flasche.

Eine weitere Spezialität ist der OEil de Perdrix, französisch für Rebhuhnauge, ein Neuenburger Rosé aus Pinot Noir, dessen Wurzeln auf das Jahr 1861 zurückgehen. Da die Walliser Winzer ebenfalls OEil de Perdrix produzieren, heben die Neuenburger gerne hervor, dass es sich bei ihren Gewächsen um das Original handelt. Berühmt ist der Kanton auch für Schaumwein.

Schon seit 1829, seit fast zweihundert Jahren, stellt Mauler im Val-de-Travers Schaumwein nach traditioneller Methode her. Im Jahr 1877 erreichte die Reblaus den Kanton Neuenburg, nachdem der Schädling einige Jahre zuvor erstmals in Genf nachgewiesen wurde. In der Konsequenz wurden – und dies fast überall in Europa – Wein und Spirituosen aus Trauben rarer, schlechter und teurer.

Weinberge bei Yverdon-les-Bains

In Neuenburg pflanzten zahlreiche Winzer in dieser Zeit Pflaumenbäume, die sich bestens für die Destillation eignen. Noch heute findet man die Bäume in den Weinbergen der Region.

Eine neue AOP für den Pflaumenbrand

Um welche Pflaumensorten es sich dabei handelte, war man sich längere Zeit nicht sicher. Fakt ist, dass der Name «Bérudge» für eine Sorte und eine Spirituose stand. Verbreitet waren auch die Sorten Prune de Cornaux, Andrière, Chézard, Damasson rouge und die Löhrpflaume. Da die Brennereien und Obstproduzenten von Neuenburg, Freiburg, dem Berner Jura und Teilen der Waadt nun ein Gesuch für den Schutz von «Eau-de-Vie de Bérudge AOP» beim Bundesamt für Landwirtschaft einreichten, mussten die Sorten genetisch untersucht werden.

Dabei kam heraus, dass zwischen der Damasson rouge und den Pflaumen der Gruppe «Bérudge» keine Unterschiede festgestellt wurden. Da «Bérudge» künftig nur noch den Edelbrand beschreiben soll, wurde für die Frucht und den Baum der Begriff «Prune Rouge» vorgeschlagen. Die Bérudge soll aus Prune Rouge, Prune Andrière beziehungsweise de Cornaux (die Untersuchung zeigte, dass es sich auch da um zwei identische Sorten handelt) und aus der Löhrpflaume gebrannt werden dürfen.

Die AOP Bérudge wäre die zweite geschützte Herkunftsbezeichnung für einen Pflaumenbrand in der Schweiz. Geschützt, mit dem vermutlich strengsten Pflichtenheft der Geschichte, ist die Damassine AOP aus dem Kanton Jura. Die rötlichen Pflaumen müssen vom Boden aufgehoben werden, ein Schütteln des Baumes ist verboten. Früchte und Destillate von mehreren Gemeinden, Jahrgängen oder gepfropften und nicht-gepfropften Bäumen dürfen nicht vermischt werden.

Kein Wunder sind diese Spitzenbrände nicht im Tiefpreissegment angesiedelt. Auch andere (teure) Wildfruchtbrände haben im Kanton Jura Tradition. So destilliert man hier alles, was die Hecke hergibt: Schlehen, Hagebutten, Vogelbeere, Elsbeere sowie Wildapfel oder -birne.

Die neue Brenner-Generation

Hervé Blanchard gehört zur neuen Generation von Obstbrand- Brennern des Arc Jurassiens. Noch nicht einmal zehn Jahre ist es her, seit er die Distillerie in Porrentruy übernommen und ihr ein völlig neues Gesicht gegeben hat. Die Flaschen und die Etiketten sind modern, elegant und schlicht designt – wie man es mittlerweile auch von anderen traditionellen Fruchtbrand-Produzenten kennt.

Das wohl interessanteste Projekt der letzten Jahre stammt von der Familie Gyger im Berner Jura. Angefangen hat die Geschichte der «Distillerie de Souboz» mit der Souboziane, einem Enzian-Aperitif, der in diesem Jahr sein 10-jähriges Bestehen feiert. In der Zwischenzeit sind weitere Kräuterliköre und Gins entstanden. Darunter der Fran-Gin, der von der DistiSuisse 2021/22 zum besten Gin der Schweiz gekürt wurde.

Dass mittlerweile sechs Personen im Betrieb arbeiten und circa 80 Prozent der Botanicals für die Produkte selbst gesammelt bzw. angebaut werden, zeugt davon, dass die Bern-Jurassier etwas von ihrem Handwerk verstehen. Dass sie aber auch einen Sinn für Humor haben, beweist ihr «Gin Sapin de Noël», wo kurzerhand ein ganzer Weihnachtsbaum (ohne Deko) im Brennhafen landete.

Die lustige Etikette und der Wachsverschluss mit Kerzendocht dieser Sonderabfüllung sind ein echter Hingucker. Es ist kein Zufall, dass die Brennerei mit einem Enzian-Aperitif gestartet ist. Nur etwas südlicher von Souboz liegt das Vallon de Saint-Imier mit dem Fluss Suze. (Das Uhrmacherdorf Saint-Imier wurde im Jahr 1872 zum Gründungsort der anarchistischen Bewegung «Antiautoritäre Internationale ») Zwar behauptet Pernod Ricard, dass der Enzian- Likör in Frankreich 1885 in der Nähe von Paris von einem Monsieur Fernand Moureaux erfunden wurde.

Dieser Artikel erschien in
Ausgabe 3-2024

BAR NEWS-Magazin als Einzelausgabe

Im Sonvillier glaubt man dieser Erzählung jedoch nicht. Laut der Version, die man sich im Berner Jura erzählt, geht der Aperitif auf einen Herrn Hans Kappeler zurück, der das Rezept einem französischen Industriellen verkauft haben soll. Fakt ist, dass der Enzian auf dem kalkhaltigen Boden des Juras besonders gut gedeiht. «Fast jedes Bergrestaurant hat einen Enzian im Angebot», sagt Elodie Gerber. «Es ist die Spirituose des Berges.»

Die 35-jährige hat 2017 in Orvin, just hinter Magglingen, eine Lohnbrennerei übernommen und brennt neben Obst auch Enzian. Letzteren destilliert sie meist mit ihrem uralten 120-Liter-Brennhafen, der vor zehn Jahren auf Gas umgerüstet wurde. Die meisten Spirituosen brennt sie mit moderneren Häfen, zudem stellt sie mittels Wasserdampfdestillation verschiedene Hydrolate aus eigenen und selbst gesammelten Pflanzen her. Der Gelbe Enzian ist geschützt.

In Bern braucht eine Bewilligung, wer mehr als 100 Kilo auf seinem eigenen Land ernten will. Die acht- bis zehnjährigen Pflanzen werden im Herbst geerntet. Aus 100 Kilo gibt es etwa fünf bis sieben Liter à 45 Volumenprozent. Mit der Distillerie de Risoux in der waadtländischen Vallé de Joux gibt es eine Distillerie, die sich ausschliesslich dem Enzian gewidmet hat. Sie liegt in Les Charbonnières, eine Ortschaft mit der Bezeichnung «europäisches Dorf des Enzians».

Malz und das weltbeste Bier aus dem Jura

Ein kurzer Exkurs zum Bier aus dem Jura. Die Brasserie des Franches Montagnes (BFM) in Saignelégier wurde im Jahr 1997 gegründet und erlangte Kultstatus, spätestens seit die New York Times 2009 das Sauerbier «Abbaye de Saint Bon- Chien» zum weltbesten fassgelagerten Bier gekürt hatte.

Einen ähnlichen Status hatte die Brasserie des Trois Dames im waadtländischen Sainte Croix, die jedoch Ende 2020 die Türen geschlossen hat. Da es in Delémont eine Mälzerei gibt, brauen mehrere lokale Brauereien Bier aus jurassischer Gerste. Dazu gehören etwa die Bio- Brasserie Blanche Pierre oder auch teilweise BLZ aus Orvin, Blackwood aus Porrentruy und der Brasserie Tonnebière in St. Ursanne.

All about the «Trouble»

Die berühmteste Spezialität dieser Region wird trüb, wenn man sie mit Wasser mischt. Bei Absinthe handelt es sich um ein seitenfüllendes Thema. Und da wir im Jahr 2022 (1. Ausgabe) bereits ausführlich darüber berichtet haben, halte ich mich kurz und gehe hier nur auf die Neuigkeiten aus dem Val-de-Travers ein. Einerseits stellt sich die Frage um den Schutz der Bezeichnung «Absinthe du Val-de-Travers » mit einer IGP.

Hier war zuletzt die Rede von zwei Bezeichnungen. Diese hätte zwar die Interessen der grösseren, wie auch jene der kleineren Brennereien geschützt, hätte beim Konsumenten jedoch mehr Verwirrung als etwas anderes ausgelöst. Über die aktuellen Verhandlungen zwischen dem Bundesamt für Landwirtschaft, der Interprofession und dem Verband der kleinen Distillerien haben die Mitglieder Stillschweigen vereinbart. Dies sicherlich auch im Kontext des medienwirksamen Austritts von Claude-Alain Bugnon aus der Interprofession letzten Herbst.

Christophe Racine, der die Interessen der kleinen Distillerien vertritt, rechnet mit einer Einigung bis Ende dieses Jahres. Somit scheint der Prozess, den die Absinthe- Produzenten im Jahr 2006 mit dem ersten Gesuch zum Schutz von Absinthe angestossen haben, nun endlich auf der Zielgeraden. Andererseits lohnt sich ein Blick in die Brennkessel der neuen Absinthe-Produzenten der Region. Vor einigen Jahren haben etwa Céline Passard, David Denier und Julien Grünhagel ein neues Absinthe-Projekt gestartet.

Seit 2023 brennen sie selbst in Fleurier auf einem tschechischen 150-Liter-Brennhafen der Marke Kovodel. Neben dem Standard-Sortiment von «Distillerie Stillerie» destilliert das Trio monatlich eine Limited Edition von rund 15 Flaschen auf dem kleineren Brennhafen. Dadurch entstehen experimentelle Absinthes, die mit saisonalen, selbst gesammelten oder sonst ausgefallenen Zutaten hergestellt werden. Eine Entdeckung ist auch die Likör-Serie mit Zimt-Absinthe, Zimt-Vanille und insbesondere Mate.

Die Likör-Serie soll künftig ebenfalls mit limitierten, saisonalen Abfüllungen ergänzt werden. 95 Prozent des Verkaufs der «Distillerie Stillerie» geht nach Genf, wo sie insbesondere in der alternativen Szene eine Abnehmerschaft haben. Einen neuen Auftritt hat auch Romain Wanner, der vor zwei Jahren die Brennerei seines Vaters René übernommen hat. Der 35-jährige Journalist und Copywriter wohnt in Lausanne, reist aber pro Woche für ein bis zwei Tage nach Couvet für die Destillation.

Neben Absinthe produziert Wanner Gin, wobei das Verhältnis zum Absinthe-Absatz etwa fünfzig-fünfzig ist. Die Mazeration und Destillation von Kräutern verlaufen bei beiden Produkten eigentlich gleich. Im Unterschied zu Gin wird bei Absinthe jedoch mit einer wesentlich grösseren Menge an Botanicals gearbeitet. «Bei Absinthe sind es etwa vier Kilo Kräuter auf zwölf Kilo Alkohol, während bei Gin ein Kilo Botanicals schon viel sind», sagt Wanner.

Einen Erfolg konnte der junge Brennmeister an der letzten DistiSuisse feiern. So wurde die «Absinthe verte 1918» zum Kategoriensieger gekürt. Auch abseits des Absinthe-Tals haben einige Produzenten mit trüb-werdenden Spirituosen von sich reden gemacht. Ein Beispiel ist Absinthe- und Gin- Brennerei «Larusée» im Val de Ruz mit ihrem Falernum d’Absinthe oder auch ihrem Pastis.

Mit «Sympastis» hat auch die bereits erwähnte Distillerie de Souboz einen Pastis im Sortiment. Wer im Val-de-Travers unterwegs ist, sollte sich unbedingt das Absinthe-Museum in Môtiers anschauen und direkt daneben Christophe Racine vom Absinthe- Market einen Besuch abstatten. In der Uhrenstadt La Chaux-de-Fonds lohnt sich eine Visite in der Cocktailbar Origali. In Neuchâtel sind das Waves auf dem Dach des Hotels Beaulac und die Cocktailbar Moonshiners, die soeben ihr einjähriges Jubiläum feiern konnte, einen Besuch wert.

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